Was für Probleme finden denn die negativen Kritiker? Michael bemerkt, dass Hanna zufriedener ist, als Nazi gesehen zu werden, als zuzugeben, dass sie Analaphabetin ist, und dies erklärt seine Entscheidungen. Sagt Schlink dann, dass Hannas Analphabetismus ihre Verbrechen entschuldigt? „Die Massenmörderin wird als virtuelle Heilige präsentiert,“ sagt Jeremy Adler. Wenn Schlink Hannas Verbrechen entschuldigt, entschuldigt er den Holocaust? Wenn wir mit Hanna identifizieren müssen, müssen wir auch mit den Nazis und ihrer Ideologie identifizieren? Das ist schon eine schwierige Frage: es ist wohl einfacher, es zu vermeiden. Wer will sich mit einem Nazi identifizieren? Viel einfacher ist es, in „Entsetzen, Scham und Schuld [zu] verstummen,“ als zu akzeptieren, dass die Nazis auch Menschen waren.
Adler behauptet auch, dass der Roman die Geschichte “vereinfacht”. Laut ein anderer Kritiker, Lawrence Norfolk, ist Der Vorleser “eine Dosis Holocaust Light”. Also verurteilen diese Kritiker den Roman weil er zu keinem Schluss über Hannas Schuld kommen kann, aber ihn beschuldigen, zu einfach zu sein! Es ist richtig, dass der Roman die Geschichte von Deutschlands Generationsunterschied durch Michael und Hannas Verhältnis erzählt, aber ist das nicht die Rolle eines Buches? Eine Geschichte durch Metapheren zu erzählen heißt nicht sie zu vereinfachen. Laut Adler macht Schlink “die historischen Tatsachen zu Spielmaterial.” Was ist denn sein Spiel? Natürlich sind die genauen Ereignisse des Buchs nicht passiert, aber das gilt auch für alle Erzählungen : sie hätten passieren können. Eine Erzählung soll eine Geschichte erzählen.
Obwohl die Erinnerungen von Hanna bei Michael anhalten, kann er zu keinem Schluss kommen. Er kann nicht Hanna total verurteilen, was ein weiteres Problem für Adler und andere Kritiker macht. Laut Adler stehe Michael in “einem moralischen Vakuum.” Es stimmt, dass Michael nicht weiß, was er fühlen soll: tätsachlich sagt er während des Prozesses, „ich fühlte nichts.“ Es gilt aber nicht, meiner Meinung nach, dass er deswegen unmoral ist. Das Dilemma von Hanna und ihrer Schuld verfolgt ihn sein ganzes Leben. Das ganze Buch geht um seinen Versuch, Hanna zu verstehen. Dass er (und auch der Leser) mit diesem Versuch nie total erfolgreich ist, ist für mich keine Schwachheit, sondern eine Stärke. Als Michael das Geld von Hannas Letzter Wille zur Tocher der Frau bringt, die das Konzentrationslager überlebt hatte, und deren Buch Hannas Verbrechen beschreibt hatte, will sie es nicht: „“Und Frau Schmitz damit die Absolution geben?” (...) Sie schüttelte den Kopf.“ Schlink gibt Hanna durch die Tochter keine Absolution, und damit zeigt sich, dass es keine einfachen Antworte geben können. Die Hauptbeschuldigung von Adlers Kritik ist, dass das Buch “Mitleid mit den Mördern” erzwingt – es steht im Titel der Kritiker. Meiner Meinung nach verwechselt aber Adler Mitleid mit Verständnis. Beleidigt es Opfer des Holocausts, mit einer Täterin Verständnis zu haben? Verständis zu haben ist nicht zu verzeihen. Ich denke auch, dass das Buch nichts “erzwingt”, weil es keinen moralischen Schluss gibt.
Warum sollte man aber nicht mit Hanna Mitleid fühlen? Sie hat gemacht, was von ihr verlangt wurde, und es hat ihr ganzes Leben ruiniert. Während ihres Prozesses, fragt sie den Richter das zentrale Thema des Buchs: “Was hätten Sie gemacht?”: wer Hanna verurteilt, muss diese Frage beantworten. Nur wenn man sagen kann, dass man in Hannas Situation sich widersetzen würde, kann man Hanna als Böse verurteilen. Fast eine ganze Nation hat sich nicht widersetzt. Hannas Taten waren moralisch falsch, aber gesetzlich richtig : sie steht vor Gericht wegen der Moralität von ihrer Taten, obwohl diese Moralität gegen das Gesetz ihres Landes stand. Dies ist kein einfaches Problem, das meiner Meinung nach die Anschuldigung von “Geschichtsvereinfachung” widerlegt.
Wenn man sagen würde, dass dieses Buch die ganze National-Sozialistiche Zeit darstelle, dass wir die Verbrechen der Nazis verzeihen müssten, weil sie alle unschuldige Analphabeten und Analphabetinnen waren, wäre es falsch. Das Buch sagt das aber nicht : es so zusammenzufassen ist eine grosse Vereinfachung, die widersprächlich scheint, weil die Kritiker das Buch wegen Geschichtsvereinfachung beschuldigen. Meiner Meinung nach ist diese Meinung vom Buch nur der Elitismus. Die Kritiker denken, dass ein Thema wie der Holocaust unverständlich in der Kultur blieben soll: dass es lesbar und zugänglich für die Öffentlichkeit zu machen falsch ist. Ich glaube, dass das Gegenteil wahr ist : dass der Holocaust, so viel wie möglich, verstanden werden muss, damit wir einen weiteren zu verhindern.
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