In Antigone begegnet uns eine ganz neue Art von “Held“: Wohl ist sie die Königstochter, ist sich ihres Wegs so sicher und dabei von einer Starrheit wie sophokleische Helden auch sonst. Allein, sie ist in einer Position größter Schwäche, und zwar vom Anfang bis zum Ende. Und ganz anders als Prometheus, Aias, Orest, stellt sie nicht die Herrschaft oder gar die Existenz des Machthabers, mit dem sie in Konflikt gerät in Frage. Sie sinnt nicht auf Mord oder Rache. Vielmehr will sie sich der Herrschaft durchaus fügen. Nur in einem Punkt muss sie Kreon den Gehorsam versagen. Und selbst da ist sie am Ende nicht ganz sicher, ob sie nicht Unrecht hat.
Über Kreons Anspruch auf Gehorsam bringt sie ihr Recht in aller Grundsätzlichkeit hervor: Es gibt uralte „Gebräuchlichkeiten“ (nómina)- denn so sagt sie, statt dass sie von Gesetzen gesprochen hätte- ungeschriebene und unwandelbare, seit unvordenklichen Zeiten von den Göttern her. Sie stehen über allem menschlichen Recht.
Doch Kreons Anordnung stößt auf Widerstand. Antigone interessiert sich eigentlich nicht für Politik, aber sie weiß, dass sie Polyneikes beerdigen wird. Denn egal was passiert ist, er ist schließlich ihr Bruder. Und Kreon ist ihr Onkel und außerdem der Vater ihres Verlobten Haimon. Auch er gehört ja zu Familie und sie nimmt seine Todesdrohung zunächst gar nicht so ernst. Und überhaupt: von Kreon wird sie sich nichts gefallen und vorschreiben lassen, nichts jedenfalls was die Familie betrifft. Und Anordnung hin oder her: Wie rechtfertigt Kreon eigentlich, dass ausgerechnet er sich zum König aufspielt? Ist sie nicht Antigone, die Tochter des Ödipus? Für Antigone ist Kreon nicht der sorgfältige vernunftgeleitete Regent, der er gern wäre, sondern schlicht ein Tyrann. Kreon wiederum hält Antigones Widerstand zunächst für pubertären Unsinn und den schwierigen Verhältnissen geschuldet. Schlimm, dass ausgerechnet im eigenen Haus gegen die neue Gesetzestreue verstoßen wird, doch das wird sich hoffentlich klären lassen, glaubt Kreon,
Was als Familienkonflikt beginnt, weitet sich zur Staatskrise aus, ein Ausweg ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Antigones Widerstand, der fast wie ein Spiel beginnt, wird zum Feldzug gegen Kreon und zum Aufstand der Jugend gegen den König. Doch der hat nicht nur sein persönliches politisches Schicksal, sondern die Zukunft der Stadt an das Bestattungsverbot geknüpft, ein Zurückweichen unmöglich. Kreon weiß das Recht der Stadt hinter sich und Antigone die Familiengeschichte und das Andenken an die allgegenwärtigen toten Brüder.
In einer von Männern dominierten traditionellen Klassengesellschaft, die auf dem Glauben beruht, dass Männer den Frauen überlegen sind, steht Bernarda sinnbildlich für die Autorität, für das Patriarchat. Mit ihrem Handeln bewegt sie sich damit ganz legal und natürlich in einem Rahmen, der die ländliche andalusische Gesellschaft seit Jahrhunderten bestimmt.
Die lebenshungrigen jüngeren Töchter richten all ihr Sehnen und Begehren auf den fröhlichen, gutaussehenden Bewerber Pepe el Romano, der allabendlich vor dem Fenstergitter der mageren Augustias erscheint, um Bernarda zu täuschen, denn sein eigentliches Interesse gilt der schönen Adela, die ihn, unter ständiger Angst entdeckt zu werden, gleichwohl mit glühender Leidenschaft liebt. Ihren Gefühlen folgend gibt sie sich dem Verlobten ihrer älteren Schwester hin. Aus hasserfülltem Neid verrät die krüpplige Schwester Martirio das nächtliche Treffen der Mutter. Diese verjagt den jungen Liebhaber mit Gewehrsalven; er entkommt unverletzt. Um Adela ins Herz zu treffen, belügt Martirio ihre Schwester und erzählt ihr, dass Pepe tot sei. Voller Verzweiflung erhängt sich die junge Frau im Stall. Bernarda schwört Rache zu nehmen, bahrt den Leichnam ihrer Tochter prunkvoll auf, verpflichtet alle Angehörigen des Hauses zum Schweigen und bestimmt, dass ihre Tochter als Jungfrau gestorben sei.
Die andere, versessen, die öffentliche Ehre des Hauses zu wahren, fordert mit unerbitterlicher Herzenskälte blinde Gehorsamkeit von ihrer Familie für einen Ehrenbegriff, der sich in Äußerlichkeiten erschöpft, in einer sauberen Fassade. Der alleinige Maßstab wird durch die Meinung der Dorfgesellschaft bestimmt. Durch Bernarda wird das Haus zum Gefängnis, `bewacht´ durch die verstorbenen Blicke der Nachbarschaft. Bernarda ist zugleich Opfer dieser verkommenen Sozialmoral, die beständig ihr Handeln diktiert und die die Lebensimpulse ihrer Töchter zerstört.
Ihre uneingeschränkte Autorität und ihre Willensstärke zeigen sich deutlich an verschiedenen Stellen im Drama: „Ihr tut, was ich euch sage.“ (S. 13) oder „Bildet euch nur nicht ein, dass ihr mir auf der Nase herumtanzen könnt. Solange ihr mich nicht mit den Füßen voran aus dem Haus tragt, bestimme ich, was mir und was euch gehört!“ (S. 24) „Hier im Haus sind wir uns alle einig.“ (S. 52) Mit diesem Satz charakterisiert sie ihr häusliches Regime; in gleicher Weise lässt sich damit ein diktatorisches Staatswesen kennzeichnen.
Eine weitere stimmungsbildende Konstituente ist in dem Auftritt von Maria Josefa zu sehen. Der Autor lässt die offensichtlich schwachsinnig gewordene Mutter von Bernarda all das sagen, was sich die jungen Frauen vom Leben erträumen und was in ihrem Inneren an unterdrückter menschlicher Selbstverständlichkeit schmachtet. Lediglich mit Worten gelingt es ihr, sich von der unmenschlichen Unterdrückung zu befreien. Wie sehr Bernarda diesen Freiheitsdrang, der selbst bei der Alten noch lebendig ist, zu unterdrücken versucht, wird in der Tatsache deutlich, dass sie ihre Mutter ebenso wie ihre Töchter wie eine Gefangene im eigenen Hause hält, stets in Sorge, die Nachbarschaft könne etwas von den Begierden erfahren. Schon gleich zu Beginn des 1. Aktes erwähnt Lorca Maria Josefa indirekt als er die Magd Poncia fragen lässt: „ Hast du zugesperrt?“ (S. 5) Die andere Magd antwortet, dass sie den Schlüssel zweimal umgedreht habe, um sicherzustellen, dass die Alte nicht entweichen kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass Maria Josefa unter keinen Umständen das Haus verlassen darf und sich die Freiheit nimmt zu tun und zu sagen, was ihr auf der Seele brennt. Zusätzlich wird die Tür gesichert. „ Schieb lieber noch den Riegel vor. Die hat Finger wie fünf Dietriche auf einmal.“ (S. 6) Eindeutiger kann die symbolhafte Darstellung manischer Freiheitsunterdrückung nicht zu Ausdruck gebracht werden.
Mit Maria Josefas Auftritt hat Lorca seinem Publikum drei Möglichkeiten vor Augen geführt, auf den Konflikt zwischen dem persönlichen, triebhaften Freiheitsdrang und einer autoritären, repressiven Ordnung zu reagieren:
Die erste Möglichkeit besteht in der Akzeptanz der Ordnung, was zwangsläufig eine Unterwerfung unter die Macht bedeutet. Adelas Schwestern folgen diesem Muster und gehorchen ihrer despotischen Mutter.
Eine andere Konsequenz ist in dem Weg zu sehen, den Bernardas Mutter gegangen ist: Sie ist offensichtlich aufgrund des oppressiven Regimes wahnsinnig geworden; der Wahnsinn ermöglicht die Flucht in eine Scheinwelt, in der alle Freiheiten erlaubt sind.
Der dritte Weg ist der beschwerlichste, folgenreichste aber auch der ehrlichste: Er ist die Auflehnung, das Aufbegehren, die konsequente Rebellion gegen die lebensverneinende Autorität. Dieser Weg führt in den Tod, wie Adelas Selbstmord zeigt.
Doch wer entscheidet eigentlich über Recht und Unrecht und wer bestimmt die Moral von Handeln und Gesetzten? Die Regeln der Politik? Das Diktum der Götter? Oder die Verpflichtung der Familie gegenüber?
Literaturverzeichnis:
Primärliteratur
Sophokles: 1992. „ Antigone“. Stuttgart: Phillip Reclam jun. GmbH &Co.
Frederico García Lorca: 1998, „Bernarda Albas Haus“. Stuttgart: Phillip Reclam jun. GmbH &Co.
Originaltitel: „La casa de Bernarda Alba“ Drama de mujeres en los pueblos de Espana
Sekundärliteratur
Giebel, Marion: 1992. „Erläuterungen und Dokumente Sophokles Antigone“. Stuttgart: Phillip Reclam jun. GmbH &Co.
Pelster, Theodor: 2005. „Lektüreschlüssel Sophokles Antigone“. Stuttgart: Phillip Reclam jun. GmbH &Co.
Lorca, Frederico Garcia: 2004. “La casa de Bernarda Alba”. Stuttgart: Phillip Reclam jun. GmbH &Co.