–Kritik. Besonders zeigt sich dies am Tod seiner Mutter zu dem er vorerst gleichgültig zu stehen scheint. Zum Beispiel besuchte er sie wenig weil es ihn „um [s]einen Sonntag brachte“ (S. 10). Analysiert man diesen Sachverhalt aber detaillierter zeigt sich dass das Schicksal seiner Mutter ihm keineswegs gleichgültig gewesen sein kann. Zitate wie „Ich wollte sofort zu Mama“ (S. 8) und der Satz „Jetzt ist sie (die Wohnung) zu groß für mich“ (S. 30), obwohl unlogisch weil seine Mutter vorher auch nicht da war, zeigen wie groß der durch ihren Tod verursachte Einschnitt in sein Leben und seine Einsamkeit ist. Meursault steht dem Tod seiner Mutter nicht gleichgültig gegenüber, sondern versucht sich von jeglicher Emotionalität zu distanzieren.
Also verlagert er besonders emotionale Momente wie den Tod seiner Mutter in den rationalen Bereich und versucht sich von einer emotionalen Erinnerung an sie zu befreien was vom Leser vorerst als Gleichgültigkeit missverstanden werden kann und von Mitmenschen Mersaults (Beispiel: Richter) am Ende auch wird. Er will nicht nur jeglichen negativen Emotionen aus dem Weg gehen sondern auch dem Gedanken an den Tod. Meursault als Atheist sieht keinen Sinn zu Leben, das Leben aus seiner Sichtweise ist absurd weil es für den Menschen keine Sicherheit für ein leben nach dem Tod gibt. Aus diesem Grund ist für ihn alles gleich gut oder schlecht; Werte haben für ihn keine Bedeutung („ Ich habe geantwortet, dass man sein Leben nie änderte, dass eins so gut wie das andere wäre und dass mein Leben hier mir keineswegs missfiele.“ S. 56) Wäre diese nicht besonders offensichtliche Liebe zu seiner Mutter nicht gegeben könnte man seine Lebensweise als rein vegetativ beschreiben.
Die Gefühle zu seiner Mutter einmal ausgenommen herrscht eine allgemeine Indifferenz in seinem Leben. Werte wie Freundschaft haben für ihn keine Bedeutung („Mir war es egal, sein Kumpel zu sein“ S. 45). Auch kann er keinerlei Liebe für andere Menschen als für seine
Mutter empfinden. Sogar die Beziehung zu Marie beruht rein auf physischer Basis. Seine allgemeine Gleichgültigkeit spiegelt sich auch an seiner etwas seltsamen Antwort auf Maries Heiratsantrag wieder: „Ich habe ihr erklärt, dass das völlig belanglos wäre und dass wir, wenn sie es wünschte, heiraten könnten“ (S. 57).
Auch wenn beide Charaktere viele unterschiedliche Eigenschaften und Verhaltensmuster aufzeigen haben sie doch manches Gemeinsam. Beide verfügen über keinerlei Spiritualität, sind pragmatisch und leben im hier und jetzt. Die Erzählungen geben keine Hinweise auf Beschäftigung mit dem Tod, Fragen nach dem Sinn des Lebens oder anderes philosophisches
Gedankengut. Der Tod Meursaults Mutter hätte diese Art von Konfrontation auslösen können, allerdings verdrängt er alles was mit diesem Thema zu tun hat, verlagert es in den rationalen Bereich. Deswegen kommt es nicht zu einer inneren Auseinandersetzung mit dem Sinn seines Lebens, für ihn gibt es keinen; er glaubt nicht an spätere Auswirkungen seines irdischen Handelns; für ihn ist ein Leben „ so gut wie das andere“ (S. 56).
Auch John Proctor versucht ein Ereignis seines Lebens zu verdrängen ohne wirklich damit abgeschlossen zu haben. Er hat zwar erkannt, dass er durch den Ehebruch eine schwere Sünde begangen hat, allerdings versäumt er es Abigail klar zu machen, dass es für ihre Beziehung keine Zukunft gibt und dass sie sich keine Hoffnung machen darf („ Hast du ihr je gezeigt, dass sie bei dir keine Chancen mehr hat? Sie kann in der Kirche nicht an dir vorbeigehen, ohne dass du knallrot wirst. – Weil sie mich an meine Sünden erinnert. – Sie sieht das anders.“ S. 45). Proctor versucht so verzweifelt den Gedanken an den Ehebruch zu verdrängen, dass er ihn sogar in der Aufzählung der zehn Gebote vergisst („ Ehebruch, John.“ S. 50).
Als nach vielen Ausrufungen der Mädchen unter Abigail auch der Name Proctors Frau fällt beginnt er zu begreifen, dass er sich nicht nur mit der verdrängten Vergangenheit wieder konfrontieren muss sondern auch die Wahrheit seiner Sünde ans Licht bringen muss um seine Frau zu retten und Abigail als hure zu entlarven („ Alle unsere Verstellungskünste bringen nichts mehr“ S. 60). Er muss dem Gericht klarmachen, dass Abigail glaubt nach der Tötung Elizabeths ihren Platz einnehmen zu können. Er hält auch an seinem Vorhaben fest als ihm gesagt wird, dass seine Frau gerettet ist, da sie ein Kind erwartet. Es ist der mögliche Tod der Frauen seiner Freunde und Mitmenschen, der ihn dazu bringt trotzdem seine Ehre aufzugeben und die Wahrheit preiszugeben („Wir sind, wie wir immer waren, nur nackt“ S. 61). Auch bringt er Mary Warren, eine der Mädchen, dazu ihre Lüge preiszugeben. Obwohl dieser Plan letztendlich scheitert als seine Frau den Ehebruch leugnet um seinen Ruf zu retten, wird diese Wandlung Proctors von jemandem, der sich verstellt um seinen Ruf zu retten zu jemandem, der die Wahrheit spricht und sich selbst aufgibt um andere zu retten vom Autor als „gut“ dargestellt. Proctor wird schließlich auch verurteilt, als Mary erkennt, dass sein Plan gescheitert ist und aus Angst vor dem Strick auch ihn als Hexer ausruft. Proctor fasst diese Ereignisse in folgendem Zitat zusammen: „Ich höre den Schritt Luzifers. […] Denn alle, die zögern, den Menschen aus seiner Unwissenheit herauszuführen, so wie ich gezögert habe, und wie sie es jetzt tun, werden von Gott besonders bestraft“ (S. 98). Er steht nun vor der Wahl bei der Wahrheit zu bleiben, den Bund mit dem Teufel zu leugnen und zu sterben oder zu lügen um am Leben zu bleiben. Er versucht eine Lüge damit zu rechtfertigen, dass „ nichts […] verdorben [wird], wenn [er] ihnen diese Lüge erzähl[t], was nicht vorher schon schlecht war“ (S. 112) und dass er seine Ehre schon verloren hätte. Doch Proctor begreift, dass sobald er diese „Geständnis“ ablegt „verleumdet [er] alle an dem Tag, an dem sie aufgehängt werden, weil sie schweigen“(S. 118). Proctor bleibt also bei der Wahrheit weil er sonst „den Staub an den Füßen derer nicht wert [wäre], die gehängt werden“ (S. 119).
Zusammenfassend also durchlebt John Proctor eine große Entwicklung. Vorher war er jemand der seine Sünden geheim hielt, um seinen Ruf nicht zu verlieren. Der mögliche Tod der Frauen seiner Freunde und Mitmenschen aber wandelt ihn: Er wird zu jemandem der seinen Ruf aufs Spiel setzt um „den Menschen aus seiner Unwissenheit herauszuführen“ (S. 98) und zu jemandem der seine Würde und die Wahrheit über sein eigenes Leben setzt, seinen eigenen Tod in Kauf nimmt. Ohne den Tod gäbe es keine Möglichkeit für Proctor sich zu ändern, er nimmt seinen Tod in Kauf und versucht andere zu retten um seine Würde zu erlangen.
Auch Meursault durchlebt im Angesicht seines Todes eine Entwicklung. Nach der Verurteilung beginnt sich seine Haltung zu seinem eigenen Leben zu verändern. Der Leser hatte vorher nicht die Möglichkeit in die Gedanken Meursaults hineinzusehen, er sah nur seinen absurden Lebensstil. Meursault distanzierte sich von jeglicher Kritik oder auch nur Beschäftigung mit seinem eigenen Leben. Im Gespräch mit dem Gefängnisgeistlichen erfährt der Leser von dem „dunklen Atem“ aus „der Tiefe seiner Zukunft“ der „all das gleich [macht]“ was man ihm „in den […] Jahren böte, die [er] lebte“ (S. 157). Seine Verurteilung bringt ihn also dazu sich bewusst mit dem Grund seiner Gleichgültigkeit zu beschäftigen, nämlich seinem Nichtglauben an eine spätere Folge seines Handelns, der daraus resultierenden allumfassenden Bedeutungslosigkeit des Lebens und der Absurdität des Todes („ Nichts, nichts wäre von Bedeutung“ S. 157). Meursault erkennt, dass es keine Sicherheiten für den Menschen gibt („Dabei wäre keine seiner Gewissheiten das Haar einer Frau wert“ S. 157) außer des eigenen Lebens und des „Todes, der bald kommen würde“ (S. 157).
Am Beispiel seiner Mutter aber erkennt Meursault schließlich den Wert des eigenen Lebens, mit es sich bewusst auseinanderzusetzen lohnt („Dem Tod so nahe, hatte Mama sich bereit gefühlt, alles noch einmal zu erleben.“ S. 159). Meursault begreift also schließlich dass, trotz aller Absurdität, das Leben etwas Wertvolles ist, das sich bewusst zu leben lohnt.
Zusammenfassend lässt sich sagen dass in beiden Erzählungen der Tod einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der beiden Charaktere hat. Der Tod kann in beiden Beispielen dem Menschen dabei helfen den Sinn seines Lebens zu finden.
Im Beispiel John Proctor kann der Tod eine Möglichkeit bieten seine Ehre zurückzugewinnen in dem er seinen Tod für in Kauf nimmt und sich zur Rettung Anderer aufgibt.
Im Beispiel Meursault verändert die Verurteilung zum Tod seine unbewusste Lebensweise zu einer bewussten. Er lernt sich bewusst mit seinem Leben und seinem Sinn auseinanderzusetzen. Der Gedanke, dass sein Leben bald zu Ende sein wird bringt ihn zu diesem Umdenken.
Der Tod kann also etwas negatives aber auch etwas Positives bedeuten, er spiegelt einerseits die Absurdität des menschlichen Lebens da, andererseits bietet er aber auch eine Gelegenheit seine Ehre zu gewinnen und somit zum Märtyrer zu werden.