1.2 Der Autorenbegriff
1.2.1 Autor
In der Autortheorie steht der Regisseur mit seinem künstlerischen Anliegen im Mittelpunkt. Der Regisseur wird als wichtigster Produktionsfaktor im Entstehungsprozess des Films gesehen, da er zugleich Autor und Produzent ist. Stammt das Drehbuch nicht aus der Feder des Regisseurs, tritt es hinter der ganz eigenen Sicht auf die Dinge zurück, hinter der Art und Weise wie der Regisseur den Stoff umsetzt. Der Begriff bezeichnet vor allem eine Gruppe französischer Filmkritiker der 50er Jahre, die in autonom entstandenen Filmen genauso wie in Hollywoodstreifen die Handschrift des Filmemachers entdeckten. Den Kritikern kam es auf eine subjektive Haltung an, die moralischer, politischer, philosophischer oder ideologischer Natur sein konnte.
Im engeren Sinne steht der Begriff auch für die Filme bestimmter deutscher Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die die Drehbücher für ein “literarisch geprägtes und künstlerisch ausgerichtetes Kino“ schrieben. In Deutschland gilt „Der Andere“ von Max Mack 1913 inszeniert als der erste deutsche Autorenfilm. Dieser frühe Autorenfilm in Deutschland orientierte sich am französischen Film d`Art. Ziel war es das Medium Film, vom damals schlechten Ruf, zum Kunstobjekt zu erheben.
1.2.2 Der deutsche Autorenfilm der 70er
Erst in den 60er und 70er Jahren konnte man in Deutschland wieder von einem Autorenfilm sprechen. Wieder legten einzelne Filmemacher Wert auf die künstlerischen Aspekte des Films. Ihnen lag mehr an sozialkritischem Engagement als an phantasievollen Dekors. Sie sahen die Brisanz des Stoffs im Vordergrund, nicht die Ästhetik des Films. Auf der visuellen Ebene versuchten sie ihren anderen Blick auf die Welt, ohne Konventionen deutlich zu machen. Als Vorbilder dienten ihnen die französischen Filmkritiker der 50er Jahre, die später selbst Filme machten.
Der deutsche Autorenbegriff speist sich aus der Bewegung der jungen deutschen Filmemacher der 60er Jahre, die bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen 1962 in Oberhausen in einem Manifest den neuen deutschen Spielfilm propagierten. Der Neue deutsche Film sollte frei sein von den branchenüblichen Konventionen, der Beeinflussung kommerzieller Partner und der Bevormundung durch Interessengruppen. Das bedeutete, dass der Regisseur mehr Kontrolle über die finanziellen Mittel und damit über den künstlerischen Arbeitsprozess hatte. Charakteristisch für alle diese Filme ist die rationale Filmsprache und die erkennbare subjektive Haltung des Regisseurs.
1.2.3 der Regisseur und Autor R.W. Fassbinder
Fassbinder arbeitete als Regisseur mit einem festen Stamm an Schauspielern. Das Prinzip des kollektiven Arbeitens und Zusammenlebens schlug sich als seine subjektive Haltung in seinen Filmen nieder. Seit 1973 arbeitete er mit seiner eigenen Produktionsfirma „Tango Film“ und war somit Produzent und Regisseur in einem. Fassbinder wollte publikumsorientierte Filme drehen. Er hatte vor, den deutschen Hollywoodfilm zu schaffen. Damit meinte er einen unterhaltsamen Film, der gleichzeitig etwas über die Realität aussagt. Seine Filme richteten sich stets gegen gesellschaftliche und sogenannte gut bürgerliche Konventionen. Seine Filmhelden waren meist Außenseiter und von der Gesellschaft mißachtet.
1973 greift Fassbinder den Film „Was der Himmel erlaubt“, den Douglas Sirk 1955 gedreht hatte, auf und verarbeitet die Geschichte um eine Beziehung zwischen einer Frau und einem jüngeren Mann aus Neue.
Sirks Filme, insbesondere seine Melodramen, waren voll emotionaler Kraft und Ironie. Durch sie wurde Faßbinder angeregt deutsche Versionen des amerikanischen Genrefilme zu drehen. Im Gegensatz zum Melodrama in Hollywood, welches die Zuschauer mit ihren Emotionen allein läßt, wollte er in den Zuschauern Gefühle auslösen, ihnen aber gleichzeitig die Möglichkeit geben darüber nachzudenken und sie zu analysieren. Er baute distanzierende Effekte in seine Filme ein, um bei den Zuschauern einen Verfremdungseffekt zu erreichen und ihre Sinne zu öffnen.
2. Filmanalyse: „Angst essen Seele auf“
2.1 Plot
Die einsame Putzfrau Emmi trifft den zwanzig Jahre jüngeren Gastarbeiter Mohammed El Hedi Ben Salem. Wie alle Deutschen nennt sie ihn Ali. Beide verlieben sich ineinander und heiraten. Doch das soziale Umfeld in der BRD der 60er Jahre macht ihnen ihr Zusammenleben schwer. Emmis Kinder reagieren entsetzt als sie von der Heirat ihrer Mutter erfahren. Sie sagen sich von ihr los. Ihre Arbeitskolleginnen beachten sie nicht länger, der Lebensmittelhändler, bei dem Emmi seit 20 Jahren einkauft, weigert sich sie und ihren Mann zu bedienen und von ihren Nachbarinnen wird sie mit verachtenden Blicken und Äußerungen gedemütigt. Emmis Gemütszustand befindet sich zwischen Glücksgefühl wegen ihrer Liebe zu Ali und tiefer Trauer wegen den ständigen Anfeindungen von Außen. Nach einem Urlaubsaufenthalt begegnet ihnen das soziale Umfeld wohlgewogen. Dafür gibt es ausschließlich pragmatische Gründe. Die Nachbarin braucht Emmis Keller zum Abstellen von Möbeln, der Lebensmittelhändler will nicht länger auf eine zahlungsfähige Kundin verzichten, ihr Sohn Bruno braucht die Mutter zur Betreuung seiner Tochter und die Kolleginnen haben in Yolanda aus Osteuropa ein neues Opfer gefunden, das sie unterdrücken können. Mit Genugtuung läßt sich Emmi mit all jenen, die ihr einst so weh getan haben, wieder ein. Aber die Nähe zu Ali verliert Emmi mehr und mehr. Die kulturellen Unterschiede und der große Altersunterschied stellen ihre Beziehung auf eine harte Probe. Ali versucht seinen Frust bei Barbara und beim Kartenspielen und Trinken zu vergessen. Als sich beide eines Abends beim Tanz zu „ihrem“ Lied aussprechen und sich einigen gut zueinander zu sein, bricht Ali unter Schmerzen zusammen. Ein Magengeschwür wird ihn einige Zeit ans Krankenbett fesseln. Obwohl beide wieder zueinander gefunden haben, gibt es kaum Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Denn laut der Prognose des Arztes wird Ali unter dem Stress in absehbarer Zeit erneut krank werden.
2.2 Melodramatische Merkmale bezüglich des Inhalts
2.2.1 Handlungsgerüst(1-6 Merkmale)
Nicht alle der oben aufgeführten Merkmale bezüglich des Handlungsgerüsts treffen auf „Angst essen Seele auf“ zu. Es können drei aufgeführt werden: Krise, Dreiecksbeziehung, problematische Mutter-Kind-Beziehung.
Krise
Alis und Emmis Liebe wird von ihrem Umfeld nicht akzeptiert. Sie müssen eine große Krise überstehen. Emmi ist Putzfrau und lebt am Rand der Gesellschaft. Sie ist oft allein. In Ali findet sie einen Menschen, der ihr zuhört und um den sie sich kümmern kann. Doch indem sie sich zu ihm bekennt, verliert sie die sozialen Kontakte zu ihrer Familie, ihren Kollegen und Nachbarn. Emmi ist noch einsamer als vorher. Der Hass, den ihr die Menschen entgegenbringen „macht sie kaputt“ (Sequenz, Szene). Ali heiratet Emmi, weil auch er sich sehr einsam fühlt. Ali sieht in Emmi einen guten Menschen mit einem großen Herz. Sie ist die erste Frau in Deutschland, die ihm aufrichtige Wärme entgegenbringt. Emmi verteidigt ihren Mann gegenüber dem erzkonservativen Lebensmittelhändler Angermeyer, ihren Kolleginnen und Nachbarinnen. Bis sie unter Tränen gesteht, dass sie „dass alles nicht mehr aushält“ und Urlaubspläne schmiedet.
Die Anfeindungen aus ihrem Umfeld legen sich, als die Menschen erkennen, dass sie einen persönlichen Vorteil haben werden, wenn sie ihre Ressentiments aufgeben. Durch die anfängliche Diskriminierung, konzentrierten sich Emmi und Ali darauf, einander zu achten und ihre Beziehung nach außen zu verteidigen. Vom Umfeld waren sie quasi abgeschnitten und hatten nur sich selbst bzw. diejenigen, die sie akzeptierten: die anderen Gastarbeiter.
Doch auch nachdem sich die Meinung von Emmis Kindern, Nachbarn und Arbeitskollegen scheinbar geändert hat, ist die Krise noch nicht überstanden. Nun müssen sich Emmi und Ali mit sich selbst auseinander setzen. Ihre eigene Identität, ihre Kultur erschweren ihnen das Zusammenleben. Da Emmi froh ist über den Sinneswandel ihres Umfelds möchte sie, dass es weiterhin so bleibt. Sie bevormundet ihren Mann, er soll der Nachbarin helfen und freundlich zu ihr sein, „...dann sind sie auch freundlich zu uns.“ Sie erliegt dem Trugschluss die Vergangenheit hinter sich zu lassen und neu beginnen zu können. Dabei übersieht sie Alis Gefühle. Sie negiert seine Kultur und fordert ihn auf, sich an die Sitten in Deutschland anzupassen. In Szene 32 kommt es zum ersten Mal zu Diskrepanzen zwischen beiden. Ali möchte Couscous essen, doch Emmi kann und will das Gericht nicht kochen. „Außerdem mußt du dich an die deutschen Verhältnisse gewöhnen. Und in Deutschland ißt man nun mal keinen Cous-cous. (...) Ich mag auch keinen Couscous.“ (Sequenz ? , Szene?)Verletzt läßt Ali sie zurück, um mit seinen Kollegen zu essen. Als er sie nicht antrifft, kommt er, nach anfänglichem Zögern auf Barbaras Angebot zurück und geht zu ihr. Bei ihr bekommt er sein Lieblingsessen und sexuelle Befriedigung. Emmi und Ali wissen nicht wie sie mit der neuen Situation umgehen sollen. Emmi ist verletzt. Sprachlosigkeit macht sich breit zwischen beiden. Doch vor ihren Kolleginnen tut sie, als sei alles in Ordnung. Sie benutzt Ali sogar, um vor ihnen anzugeben. Ohne es zu merken verletzt sie ihn erneut zutiefst. Wie ein exotisches Objekt, was ihr gehört, fordert sie ihre Kolleginnen auf, seine Muskeln zu bestaunen. Die Frauen reden in seiner Gegenwart, als sei er gar nicht anwesend: „Naja – entschuldige, aber ich habe immer gedacht, die waschen sich nie.“ Emmi: Der schon, der wäscht sich, der duscht sogar jeden Tag.“ Hedwig „Und die Muskeln, die der hat.“ Emmi: „Ja der kann ganz schön zupacken. Komm mal her, faß ruhig an. Paula: „Und die Haut ist so zart“ Emmi: „Naja, er ist ja auch noch so jung. Aber er ist ein guter Kerl. Wirklich. Ein guter Kerl.“ Völlig erniedrigt verläßt Ali die Wohnung und geht wieder zu Barbara. Diesmal bleibt er über Nacht.
Emmi ist in großer Sorge und sucht Ali am nächsten Tag auf seiner Arbeit auf. Dort muss sie spüren, wie schmerzvoll es ist, vom eigenen Partner erniedrigt zu werden. Auf die Frage seines Kollegen „Wer isn das, Ali. Is das deine Großmutter aus Marokko? Was machtn die hier.“ lacht er über sie gemeinsam mit seinen Kollegen. Hinterher tut es ihm leid, aber er kann sich nicht bei Emmi entschuldigen. Statt dessen stürzt er in Depression. In seiner Stammkneipe spielt er mit seinen Kollegen Karten und trinkt. Als Emmi dazu kommt, hat er bereits seinen gesamten Wochenlohn verspielt. Emmi wünscht sich von der Bedienung aus der Musikbox das Lied zu dem sie mit Ali das erste Mal getanzt hat. Wie damals fordert er sie auf, mit ihm zu tanzen. Mit diesem Schritt demonstrieren beide ihre Zusammengehörigkeit vor den Kollegen, den Gästen und Barbara. Auf der Tanzfläche sprechen sie sich aus. Ali gesteht Emmi, dass er fremd geht „Ich schläft mit andere Frau. Aber... (...) Ich nicht will, aber immer so nervös.“ Sie hat dafür volles Verständnis: „Aber das ist doch nicht wichtig, Ali. (...) Du bist doch ein freier Mensch, Ali. Du kannst doch machen, was du willst. Ich weiß doch, wie alt ich bin. Ich seh mich ja jeden Tag im Spiegel.“ Trotz der sexuellen Untreue liegt beiden an ihrer Beziehung: Ali: „Ich nicht will andere Frau. Ich liebe dich, nur dich.“ Emmi: Oh, Ali ich liebe dich auch. (...) „Nein, weißt du wenn wir zusammen sind, dann, ... dann müssen wir gut zueinander sein, sonst ... weißt du, sonst ist das ganze Leben nichts wert. (...) Weißt du, zusammen sind wir stark.“ Beide haben eingesehen, dass sie sich gegenseitig respektieren müssen. Ihre Umwelt wird immer Vorurteile ihnen gegenüber haben, deshalb ist es wichtig, dass sie sich vertrauen können. Auf dieser Basis könnten sich Ali und Emmi ihr Leben einrichten und unter den gegebenen Umständen relativ angenehm gestalten. Doch die Krise ist nur scheinbar überstanden. Noch während sie miteinander auf der Tanzfläche reden, bricht Ali unter Schmerzen zusammen. Er muss im Krankenhaus aufgrund eines Magengeschwürs operiert werden. Der Arzt macht Emmi keine Hoffnung auf völlige Genesung. „Er hat ein Magengeschwür, das ist aufgebrochen. Das haben wir jetzt oft bei den ausländischen Arbeitern. Der ganz spezifische Streß, den die haben. Das ist ziemlich hoffnungslos. In Kur läßt man sie uns nicht schicken. Immer nur operieren. Und ein halbes Jahr später haben sie ein neues Geschwür. (...) Er wird wieder gesund gewiß, aber in einem halben Jahr liegt er wieder hier.“ Emmi: „Nein nein, bestimmt nicht, wenn ich mir Mühe gebe und...“ Arzt: „Tja. Viel Glück auf alle Fälle....“ Ihre Beziehung wird demzufolge auch in Zukunft stark belastet werden. Der Blick in die Zukunft wird durch die Diagnose des Arztes stark getrübt. Dennoch haben Ali und Emmi bewiesen, dass sie gemeinsam schwere Zeiten überstehen können, weil sie einander brauchen.
Dreiecksbeziehung
Ali hatte vor seiner Hochzeit mit Emmi Beziehungen zu anderen Frauen. Zu Beginn seiner Ehe ist Ali seiner Frau treu. Er widersteht dem Angebot von Barbara, der Besitzerin der Kneipe, sie zu besuchen. Doch als er mit Emmi aus dem Urlaub zurückkehrt, ändert sich ihre Beziehung. Emmis Einstellung, ihr Tonfall ihm gegenüber ändern sich. Sie gibt ihm oft Anweisungen, anstatt ihn gleichwertig zu behandeln. Ali tut was sie ihm sagt, aber er will auch seine Bedürfnisse befriedigen. Er möchte auch in seiner Ehe seine eigene Kultur ausleben können.Dazu gehört für ihn traditionelle Gerichte aus seiner Heimat zu essen. Darum tut ihm Emmis ablehnende Haltung gegenüber seinem Lieblingsessen Cous-cous weh. Sie zeigt kein Verständnis für sein Bedürfnis Speisen aus seinem Heimatland zu essen. Ali fühlt sich nicht mehr von ihr verstanden. Die Frau, die er zu Beginn kennengelernt hat, hat sich verändert. Sie benutzt ihn, um vor ihren Kolleginnen mit seinem Alter und seinem Körper anzugeben. Emmi verletzt ihn zutiefst, indem sie ihn wie ein exotisches Objekt behandelt, welches nun ihr gehört. Er kann nicht mehr so mit ihr reden, wie zu Beginn ihrer Beziehung. Er sucht bei Barbara was er bei Emmi nicht findet. Sie kocht ihm zwar sein Lieblingsgericht, trotzdem ist seine Beziehung zu ihr in erster Linie sexueller Natur. Bei ihr versucht Ali Abstand zu gewinnen. In gewisser Hinsicht gelingt es ihm auch. Tiefere Gefühle empfindet er jedoch nicht für sie. Emmi bleibt die Frau, die er tatsächlich liebt und zu der er auch zurückfindet. Emmi ist sich ihrer Fehler bewußt geworden und zeigt Reue. Ob Ali die Beziehung zu Barbara nach seinem Zusammenbruch fortführt ist nicht sicher. Vielleicht wird er sie weiterhin zu Hause besuchen. Aber lieben wird er sie nie. Diese Art Dreiecksbeziehung ist anders als im klassischen Hollywoodmelodrama. In „Angst essen Seele auf“, akzeptiert die betrogene Frau, die Beziehung ihres Mannes zu einer anderen Frau. Emmi toleriert das Fremdgehen solange Ali immer wieder zu ihr zurückkommt. Sie erkennt die Realität und kann ihr Alter und die Bedürfnisse ihres Mannes nicht leugnen. Deshalb zieht sie eine asexuelle Beziehung zu ihm vor, die trotzdem voller Liebe und Respekt füreinander sein soll.
Problematische Mutter-Kind-Beziehung
Emmi hat zu ihren Kindern eine distanzierte Beziehung. Als sie Ali kennenlernt, erzählt sie ihm, dass sie viel allein ist, weil ihre Kinder zu viel zu tun hätten „Sie sind mit sich beschäftigt....“ Die Beziehung zu ihren Kindern verschlechtert sich in dem Moment, in dem sie ihnen von ihrer Heirat mit Ali erzählt. Sie muss sich von ihnen als „Hure“ bezeichnen lassen. Ihre Tochter meint zu ihrem Mann: „Komm Eugen, hier bleiben wir nicht länger, in dem Schweinestall“. Einer ihrer Söhne tritt vor Wut den Fernseher ein, der andere meint “Das hättest du nicht tun dürfen, das nicht. Jetzt mußt du vergessen, dass du Kinder hast.“ Die Kinder sagen sich von Emmi los. Sie handeln so, wie die Gesellschaft es von ihnen verlangt. Gesellschaftliche Zwänge sind stärker als familiäre Bande. Emmi ist über die Reaktion ihrer Kinder traurig. Trotzdem kann sie ihre Gefühle zu Ali nicht leugnen, sie hält weiterhin zu ihm. Erst als einer der Söhne die Hilfe der Mutter braucht, besinnt er sich und entschuldigt sich für sein Verhalten. Er läßt ihr einen Scheck zukommen, für den Fernseher, den er zertreten hat und bittet sie gleichzeitig um ihre Hilfe. Seine Entschuldigung wirkt unglaubwürdig. Bräuchte er die Hilfe seiner Mutter nicht, hätte er sich auch nicht entschuldigt. Obwohl oberflächlich alles wieder in Ordnung zu sein scheint, können der Scheck und die vermeintliche Reue nicht über die pragmatischen Beweggründe für seine Entscheidung hinweg täuschen. Doch Emmi ist egal, ob die Entschuldigung aus wahrer Reue heraus geschieht oder aus egoistischen Gründen. Sie möchte sowohl eine gute Mutter als auch eine gute Ehefrau sein. Deshalb fällt es ihr nicht schwer, ihrem Sohn zu verzeihen. Der Mutter-Kind-Konflikt ist jedoch nicht gänzlich ausgetragen. Ihr anderer Sohn wird wohl noch lange Zeit brauchen bevor er die Entscheidung seiner Mutter einen 20 Jahre jüngeren Gastarbeiter geheiratet zu haben, akzeptieren kann.
2.3 Melodramatische Merkmale bezüglich gestalterischer Mittel :
2.3.1 Einstellungen
Bezüglich der Einstellungsgröße läßt sich feststellen, dass es sehr viele Nah- und Halbnahaufnahmen gibt. Die Figuren werden meist zunächst in ihrem Umfeld in einer halbtotalen oder halbnahen Einstellung gezeigt. Um ihre Mimik und damit ihre Gefühlsausdrücke besser zeigen zu können, werden sie in Groß- oder Naheinstellungen gezeigt. Einige Beispiele sollen hier zur Illustration dienen.
Als Emmi in der ersten Szene die Kneipe betritt wird den Zuschauern ihr Blick präsentiert. In einer Totalen sieht man die Gäste am Tresen und die Bedienung rechts hinter der Bar. Ihr Blick wird erwidert. Ebenfalls in einer Totalen sehen die Zuschauer wie Emmi sich an den ersten Tisch gleich an der Tür setzt. Als die Bedienung zu ihr kommt, werden beide in einer nahen Einstellung gezeigt. Man erkennt Emmis Unsicherheit und die Selbstsicherheit der Barfrau an ihren Augenbewegungen sehr deutlich. Während Emmi eher an ihrem Gegenüber vorbeisieht und Augenkontakt vermeidet, sieht die Bedienung ihr gerade ins Gesicht.
2.3.2 Bildkomposition (unterschwellige Botschaften)
Durch die Anordnung der Figuren im Raum bzw. ihre Position zu einzelnen Objekten kann eine Verstärkung der Aussage im Film erreicht werden. Dies geschieht z.B. in Szene 6, als Emmi ihrer Tochter Krista ihre Liebe zu Ali gesteht. Im Hintergrund hängt ein großes Kreuz an der Wand. Der Hinweis auf ein streng gläubiges Haus steht im völligen Gegensatz zum Benehmen der Figuren zueinander. Eugen, Kristas Mann, benimmt sich ihr gegenüber chauvinistisch und gemein. Die Botschaft "Liebe deinen nächsten", die durch die Präsenz des Kreuzes in dieser Szene mit schwingt, wird durch das Verhalten, speziell von Eugen (gespielt von Fassbinder selbst) zu einem ironischen Kommentar. Von Nächstenliebe und Respekt ist in diesem Haus nichts zu spüren vor allem dann als das Thema Gastarbeiter angesprochen wird.
Ein anderes Beispiel zeigt Emmis Vereinsamung nach ihrer Hochzeit mit Ali sehr offensichtlich. In Szene 25 sitzt sie während der Pause mit ihren Kolleginnen wie zuvor in Szene ? im Treppenhaus. Als sie die Frauen um ein Messer bittet, ignorieren sie sie. Emmi steht auf und nimmt sich das Messer. Daraufhin wechseln die Frauen ihren Platz und lassen sie allein sitzen. Emmis Vereinsamung wird durch die mise-en-scène in dieser Szene sehr deutlich. Die Kamera zeigt sie aus der Perspektive der Frauen in einer Halbtotalen. Sie sitzt einsam auf der Treppe hinter dem Geländer aus metallenen Längsstreben. Emmi sieht aus, wie ein Häftling im Gefängnis. Ihre Traurigkeit und die Einsamkeit, die sie innerlich spürt, werden mit dieser Einstellungsehr stark zum Ausdruck gebracht.
2.3.3 Filmmusik
Der Einsatz von Filmmusik in „Angst essen Seele auf“ ist sehr sparsam. Es gibt insgesamt nur drei verschiedene Melodien. Sie werden zur Charakterisierung des Ortes und zur Unterstreichung der Situation eingesetzt. Ein Lied erhält im Laufe des Films Symbolcharakter. Es gibt eine arabisch und eine europäisch klingende Melodie. Die arabisch klingende Melodie ist meist melancholisch. Sie wird in den Szenen 1, und 43 gespielt. In diesen Szenen dient sie zur Charakterisierung des Ortes. Die Handlung der beiden Szenen findet in einer Kneipe statt. Sie ist das Kleinod der Gastarbeiter. Ali und seine arabischen Kollegen gehen dorthin, weil sie keinen anderen Ort kennen. Hier werden sie akzeptiert, hier können sie für kurze Zeit ihre Kultur leben, indem sie arabische Musik hören. Denn ihr Dasein in Deutschland ist ein trauriges. Außer ihrer Arbeit und einem Sechs-Mann-Zimmer bleiben Ali und seinen Kollegen nur die Gastarbeiterkneipe als Abwechslung vom tristen Alltag. Durch die langsame, wehklagende Musik wird ihre Situation unterstrichen.
An diesem Ort lernen sich Emmi und Ali kennen. Als er sie auffordert mit ihm zu tanzen, erklingt ein deutsches Lied von ? aus den 30-40er Jahren aus der Musikbox: „Du schwarzer Zigeuner“. Im Verlauf des Films erklingt es noch zweimal und wird zum Symbol für Alis und Emmis Liebe. In Szene 13, nachdem das erste Mal fröhliche arabaische Musik in der Kneipe zu hören ist, drückt Emmi den Titel in der Musikbox und fordert Ali zum tanzen auf. Beide feiern mit Alis Kollegen die bevorstehende Hochzeit. Der Musiktitel wird zu „ihrem“ Lied. Ein letztes Mal erklingt er in Szene 43, kurz vor Filmende. Emmi und Ali sind zerstritten. Emmi kommt in die Kneipe, um sich mit Ali zu versöhnen. Sie wünscht sich von der Bedienung das Lied „Du schwarzer Zigeuner“. Wie erhofft, fordert Ali sie zum Tanzen auf. Sie wiederholen ein zum Ritual gewordenen Akt. Das Lied, der Tanz hat heilende Wirkung. Beide gestehen sich ihre Liebe und wollen in Zukunft besser zueinander sein.
Die andere Melodie, die ebenfalls sehr sparsam eingesetzt wird, ist langsam und traurig. Die Mundharmonikaklänge lassen schicksalhafte Wendungen in der Zukunft erahnen. Zum ersten Mal erklingt sie in Szene 5. Ali übernachtet bei Emmi. Er kann nicht schlafen „Zu viele Gedanken, will sprechen mit dir, ja?“ er setzt sich auf ihr Bett und beginnt ihre Hand zu streicheln. In dem Moment setzt die Musik ein, Emmi erzählt noch. Durch eine Abblende wird den Zuschauern der weitere Verlauf vorenthalten und gibt somit Anlass für Spekulation. Die Zuschauer stellen sich Fragen über den Ausgang des Abends. Die Musik läßt darauf schließen, dass beide einen Fehler begehen. In der nächsten Einstellung erfahren die Zuschauer, dass Ali bei Emmi im Bett übernachtet hat. Was genau passiert ist, bleibt verborgen.
Das nächste Mal kommt die Melodie in Szene 11 zum Einsatz. Emmi hat eine Szene zuvor vergeblich auf Ali in der Kneipe gewartet. Nun kommt sie nach Hause. Vor ihrem Haus steht Ali. Beide freuen sich einander zu sehen. Sie begrüßen sich ohne Worte, sehen sich erwartungsvoll und gleichzeitig ängstlich an. Alles was sie sagen können ist „ja“. Die Melodie setzt ein als sie in Emmis Haus gehen. Eine Abblende beendet wieder vorzeitig die Szene und gibt Raum für die eigene Phantasie der Zuschauer. In der nächsten Einstellung sieht man Ali und Emmi zufrieden am Küchentisch sitzen.
2.4 Die Handschrift des Autors in „Angst essen Seele auf“
Es gibt zwei entscheidende Merkmale, die für Fassbinders gesamtes filmisches Schaffen charakteristisch sind und auch in „Angst essen Seele auf“ vorkommen. Auffällig sind v.a. die sehr langen Einstellungen, die der Regisseur hält, um den Blick der Gesellschaft auf das Fremde bzw. Andersartige deutlich zu machen. In Szene 1 wird Emmi ungewöhnlich lang von den Gästen beäugt, als sie die Kneipe betritt. Es ist ein Kleinod der Gastarbeiter. Gewöhnlich kommen keine deutschen Gäste, vor allem keine älteren Damen ohne Begleitung, an diesen Ort.
In Szene ? gehen Ali und Emmi in ein teures italienisches Restaurant essen, um ihre Hochzeit zu feiern. Beide werden vom Kellner ungewöhnlich offensichtlich gemustert. Sein Blick wird mit der Einstellung der Kamera simuliert. Dadurch wirken sie wie Fremdkörper in dieser Umgebung. Ganz deutlich arbeitet der Regisseur mit dem Blick auf Ali und Emmi als ungewöhnliches Paar (man könnte in dieser Szene auch das Wort „Aussätzige“ verwenden) in Sequenz? Szene? als sie allein in einem Gartenlokal sitzen und von fünf Leuten regelrecht angestarrt werden. Das visuelle Geschehen wird auf der akustischen Ebene durch Emmi kommentiert und . „Nun glotzt doch nicht so. Das ist mein Mann. Lauter Schweine, lauter dreckige Schweine.“ Durch die Art der Kameraeinstellung und durch Emmis Kommentar werden beide zu einem Spektakel, an dem die Zuschauer als Voyeure genauso teilnehmen wie die „glotzenden“ Figuren.
Die langen Einstellungen unterstreichen aber auch den emotionalen Gemütszustand der Figuren. Emmi wird nach der Arbeitspause mit ihren Kolleginnen (Sequenz? Szene?) sehr lange in einer Nahaufnahme gezeigt. Sie ist erschüttert über die Feindseligkeit ihrer Kolleginnen gegenüber Ausländern. In Sequenz ? Szene ? steht Ali vor dem Spiegel und verabreicht sich selbst Ohrfeigen. Die Zuschauer haben aufgrund der Länge der Einstellung das Gefühl, als hasse er sich zutiefst/ als würde er nicht wieder aufhören können.
Das zweite Merkmal bezieht sich auf die ungewöhnliche mise-en-scène der Figuren. Fassbinder stellt Ali und Emmi oft in Türrahmen, Fenster oder hinter Treppengeländer, um die Enge und Ausweglosigkeit in der sie sich befinden zu verdeutlichen. Auch Nebenfiguren werden durch die mise-en-scène stärker charakterisiert. Die Nachbarin Frau Karges wird zu Beginn stets hinter ihrem mit Gittern versperrten Fenster gezeigt, um ihre kleine Welt in der sie mit all ihren Konventionen und Beschränkungen lebt, zum Ausdruck zu bringen. Nach ihrem Sinneswandel, wird sie zwar immer noch innerhalb der Fensterrahmen gezeigt, aber das Gitter ist verschwunden.
Möglich wurde die eigene Filmsprache nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Produktionsfirma. Durch sie konnte Fassbinder neben Autor und Regisseur auch Produzent sein. Unabhängig von Geldgebern entwickelte er eine eigene Filmsprache.
3. Auswertung
In „Angst essen Seele auf“ konnten einerseits eindeutig Merkmale des Melodramas nachgewiesen werden, sowohl auf narrativer als auch auf stilistischer Ebene. Andererseits lassen die Produktionsbedingungen (Fassbinder war Autor und Produzent) und gestalterischen Besonderheiten (lange Einstellungen) des Films auf die Autorenschaft Fassbinders schließen. Allein aufgrund der Vielzahl an Filmen, die er drehte, schaffte er es eine gewisse Erwartungshaltung beim Publikum aufzubauen und sich so als Autor einen Namen zu machen. Die Genreerwartungen traten dabei hinter dem Autor zurück. „Angst essen Seele auf“ kann deshalb als ein von einem Autor gedrehter Genrefilm bezeichnet werden. Beide Begriffe stehen hier nicht konträr zueinander, sondern machen die außer- und innerfilmische Komplexität dieses Mediums deutlich. Die Frage nach einer eindeutigen Zuordnung des Films kann nicht beantwortet werden.
4. Zusammenfassung
Mit Hilfe eines Rasters, welches typische Merkmale des Melodramas beinhaltete, konnte dem Film „Angst essen Seele auf“ die Zugehörigkeit zum Genre Melodrama nachgewiesen werden. Der Einfluss des Regisseurs auf den Film konnte nur zum Teil herausgearbeitet werden. Eine tiefgründige Analyse des Gesamtwerks, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden konnte, wäre dazu notwendig gewesen.
Fassbinder hatte keine Berührungsängste sich dem Hollywoodfilm zu bedienen. Speziell das Melodrama stellte für ihn das adäquate Ausdrucksmittel dar, um seine Kritik an den Missständen der Gesellschaft deutlich zu machen. Mit seiner unkonventionellen Herangehensweise gab er nicht nur dem deutschen Autorenfilm neue Impulse sondern trug auch zur Weiterentwicklung des Genrebegriffs bei.
„As in Sirk´s films Fassbinderian melodrama is more often than not problematized, checking stock audience responses through various distancing techniques – such as stylized acting, unconventional lighting, sound, and camera work and cinematic self-reflexivity – which regularly prevent our taking them „straight“. (Understanding RWF S.106)
Literaturverzeichnis
- Lantow, Bent und Per Praestekjaer: Rainer Werner Fassbinder. Angst essen Seele auf. Kopenhagen: G.E.C. Gads Forlag, 1978. 14. Auflage, 1992.
-
Schweinitz, Jörg: Genre in: Koebner, Thomas: Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam, 2002.
- Tudor,
Anhang
„Angst essen Seele auf“
Drehbuch: RWF
Kamera: Jürgen Jürges
Schnitt: Thea Eymèsz
Ton: Fritz Müller-Scherz
Produktion: Tango Film (RWF/ Michael Fengler)
Drehzeit: 15 Tage (September 73)
Laufzeit: 93 min
Uraufführung: 05.03.1974, München
Besetzung: Emmi Brigitte Mira
Ali El Hedi Ben Salem
Barbara Barbara Valentin
Krista Irm Hermann
Eugen R.W. Faßbinder
Albert Karl Scheydt
Frau Karges Elma Karlowa
Frau Ellis Anita Bucher
Paula Gusti Kreißl
Angermeyer (Ladenbesitzer) Walter Sedlmayer
seine Frau Doris Mattes
Frau Münchmeyer Lilo Pempeit
Gruber Marquard Bohm
Kellner Hannes Gromball
Katharina Katharina Herberg
Gast in Kneipe Rudolf Waldemar Brem
Chef Autowerkstatt Peter Moland
Hedwig Margit Symo
Bruno Peter Gauhe
Yolanda Helga Ballhaus
Frieda Elisabeth Bertram
Arzt Hark Bohm
(Rainer Werner Fassbinder „Angst essen Seele auf“ von Bent Lantow og Per Praestekjaer. Kopenhagen: G.E.C. Gads Forlag, 1978. 14. Auflage 1992)
Beide Regisseure nutzten die Formen und Stile des Genres Melodrama, um an ihrer jeweiligen Gesellschaft Kritik zu üben. (Understanding RWF, S.105)
Sequenzprotokoll:
Schweinitz, Jörg: Genre in: Koebner, Thomas: Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart: Reclam, 2002. S. 244
Tudor, Andrew (1973): Genre. In: Grant, Barry Keith (2003): Film Genre Reader II. Austin: University of Texas Press. 4. Auflage. S.3-10.
Schweinitz, Jörg: Genre. In: Reclams Sachlexikon des Films; Koebner, Thomas (Hg.) Stuttgart: Reclam, 2002. S. 245.
Vossen, Ursula: Melodrama in: Reclams Sachlexikon des Films; Koebner, Thomas (Hg.) Stuttgart: Reclam, 2002. S. 378.
Vossen, Ursula: Melodrama in: Reclams Sachlexikon des Films; Koebner, Thomas (Hg.) Stuttgart: Reclam, 2002. S. 378.
Grob, Norbert: Autorenfilm. in: Reclams Sachlexikon des Films S. 46
Freybourg, Anne Marie: Film und Autor. Eine Analyse des Autorenkinos von Jean-Luc Godar und Rainer Werner Fassbinder S.34
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Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder. Berlin: Bertz, 2001. S. 104
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