Im Vergleich mit dem Montag war der folgende Tag nicht so aufregend, weil wir die ganze Zeit arbeiten mussten. Am Morgen nahmen wir an einem Antiterrorworkshop teil und wir hatten Glück, Besuch von einem Polizisten der Metropolitan-Polizei zu bekommen. Es lief so: wir mussten über eine britische Fantasiegroßstadt lernen, in der es viele rassistischen Gangs gebe und deswegen eine hohe Terrorgefahr. Unsere Aufgabe war zu planen, was dagegen gemacht werden sollte, und außerdem eine angebrachte Reaktion nach möglichen Terroranschlägen parat zu haben. Dieser Workshop schuf einen wertvollen Vorteil: das heißt, dass wir zusammen arbeiten mussten, abgesehen von verschiedenen Nationalitäten und Muttersprachen. Während diesen Morgens konnte man es leicht sehen, wie die Gruppeverhältnisse und die besonderen Rollen von jedem anfingen sich zu entwickeln: zum Beispiel, Martin, der die ganze Zeit zeichnete, Natalia, die immer sarkastisch und kritisch war, und Timo, der versuchte, sehr intelligent zu klingen... Und ich? Ich war die Engländerin, die sowohl Deutsch als auch Englisch konnte, und die laute Stimme hatte!
Zu Mittag aßen Naomi und ich mit einer Gruppe deutscher Mädchen, denn war es bald wieder Zeit, den nächsten Workshop zu beginnen. Eine erfahrene Rechtsanwältin, Neena Acharya, redete über die Menschenrechte und warum sie so wichtig sind. Sie half uns nachher, unseren eigenen europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzurichten. Der Prozess ging um einen Tunesen, der in Italien lebte und in Gefahr von Deportieren war. Leider war die Debatte ziemlich einseitig und, noch schlimmer, musste ich dafür argumentieren, dass der Mann abgeschoben werden sollte, obwohl seine Menschenrechte in Tunesien bloßgestellt werden würden. Von jeder Seite gab es zwei Rechtsanwälte und ich war eine von denen, daher mussten wir mit unserer Hälfte der Gruppe arbeiten, um einen Argument anzubringen und Beweismittel zu sammeln, die wir vor den Geschworenen präsentieren mussten. Natürlich verloren wir spektakulär, denn das Ergebnis war uns sehr klar, aber nach meiner Ansicht war es eine ausgezeichnete Aufgabe, einen echten Fall unterzubreiten und zu lernen, wie ein Gerichtshof funktioniert.
Am Abend hatten die deutschen Mädchen Naomi und mich eingeladen, die Museen in London zu besuchen, aber wir mussten leider absagen, weil der nächste Tag sehr anstrengend sein sollte. Die ganze Gruppe fuhr nach Oxford aber Naomi und ich waren separat dorthin mit dem Zug gefahren, weil die Reise damit viel kürzer war. Im Bahnhof in Reading mussten wir wechseln, also sind wir zum Gleis 8 gekommen, um in den Zug nach Oxford einzusteigen, aber als wir die Abfahrtstafel anguckten, sahen wir „Swansea“- nicht „Oxford“, sondern „Swansea“. Total verwirrt schauten wir herum und hörten wir zufällig eine Meldung, die sagt, dass der Zug nach Oxford jetzt vom Gleis 3 abfahren würde. Wir mussten durch den ganzen Bahnhof rennen, ich sogar in meinen hohen Schuhen, und wir schafften es gerade noch, obwohl wir nur zwei Minuten hatten! Die Probleme verschwanden leider nicht, als wir angekommen waren. Wegen Baustellen in der Nähe von London mussten wir ungefähr zwei Stunden nur warten, bis der Bus mit dem Rest der Gruppe ankam. Endlich tauchten sie auf und wir teilten uns auf, um durch die Stadt zu gehen. Unser Ziel war eine Umfrage in der Stadt zu machen, was allerdings nicht so überfordend war: die Fragen waren über das Thema Europa, und zwar mussten wir Antworten sammeln, die die britische Einstellung zu Europa und zur Einheitswährung repräsentieren. Das dauerte aber nicht so lang, also hatten wir reichlich Zeit, die Stadt Oxford zu erkunden, und dank dem schönen Wetter konnten wir wirklich alles erfahren: wir sahen den bekannten Covered Market, aßen in einem thailändischen Restaurant und besuchten viele Colleges, namentlich Balliol, wo wir den aufgeregten Giuseppe verloren, weil er da wie ein Kind am Weihnachtstag war! Trotzdem waren wir sechs nach diesem Tag sehr gute Freunde geworden, und Naomi und ich blieben Stunden später in Oxford und redeten über alles. Leider quatschten wir soviel, dass wir schon wieder durch die Stadt rennen mussten, um unseren Zug pünktlich zu bekommen: als wir darin einstiegen, schlossen die Türen sofort hinter uns und der Zug fuhr ab, ohne dass wir Zeit hatten, uns hinzusetzen!
Am Donnerstag wurden die Verkehrsprobleme noch schlimmer: als wir mit dem Zug nach Waterloo fuhren, fanden wir heraus, dass es schwere Verspätungen in Underground gebe, deshalb mussten wir eine ganz neue Route aus dem Hut zaubern. Ich freute mich heimlich, dass ich mit Naomi war, weil wenn Reisen etwas mit dem U-Bahn zu tun hat, bin ich total hilflos. Wie leicht ich auch nach Deutschland fliegen mag, ich habe immer Probleme damit, U-Bahn Fahrpläne zu verstehen! Nichtsdestotrotz kamen wir pünktlich an. Das Morgenprogramm bestand aus einem Workshop über Fairtrade; wir nahmen an Rollenspielen teil, um über Weltarmut zu lernen, und sahen uns eine Präsentation über die Wichtigkeit der Fairtrade-Produkte in unserer Welt an. Am Mittag gingen wir mit Julia und Clarissa aus Krefeld in die Innenstadt. Das war ein interessantes Erlebnis, denn die Deutschen waren nicht daran gewöhnt, Schlange zu stehen, insbesondere nicht in Primark. Nach diesem kleinen Ausflug fühlte ich mich optimistisch, aber diese Fröhlichkeit verschwand relativ schnell, weil wir dann unsere „kleinen“ Präsentationen über unsere eigenen Städten machen mussten. Insgesamt gab es sieben Gruppen: England, Dänemark, Frankreich, die Schweiz, Bayern, Köln, und Baden-Württemberg (selbstverständlich gab es keine einzelne Gruppe für Deutschland), und am Anfang genoss ich alles, weil jeder sich so bemüht hatte, etwas vorzubereiten. Manche sangen, tanzten oder erzählten Geschichte. Leider hatten viele Deutschen die Aufgabe ein bisschen zu ernst genommen: sie hatten schon etwas zuhause vorbereitet, weil sie nicht wussten, dass sie in einer größeren Gruppe arbeiten müssten. Jeder bestand darauf, dass sein Teil auch eingefügt wurde: daraufhin dauerten manche Präsentationen mehr als 45 Minuten!
Trotz der unheimlich langen Präsentationen des vorherigen Tages, war der Freitag sehr genießbar. Am Morgen nahmen wir an einem Workshop gegen Vorurteile und Stereotypen teil. Wir wurden ermutigt, Diskussionen über unsere eigenen Erlebnissen im Bezug auf dieses Thema zu führen und unsere Gedanken darüber auszudrücken. Nach ein paar Aufgaben über nationale Stereotypen schrieben wir Gedichte in unseren Gruppen: unser Schwerpunkt, so entschieden wir uns, war Fremdsprachen und nationale Einstellungen gegenüber anderen Ländern. Zusammen schrieben wir in mehr als zehn Fremdsprachen, und obwohl die Wörter sehr einfach waren, waren sie trotzdem sehr machtvoll, glaubten wir zumindestens. Direkt nach diesem Workshop bekamen wir auch einen Besuch von einem Mitglied des Europaparlaments, Robert Evans, der kurz über die EU redete. Wir hatten die Gelegenheit, ihm viele Fragen zu stellen, und er erklärte zusätzlich ein bisschen über die Wichtigkeit der Rolle der Dolmetscher, was mich persönlich sehr interessierte. Nach seinem kleinen Beitrag waren wir dran: genau wie im Europaparlamente mussten wir mögliche Vorschläge besprechen. Zum Beispiel hatte ich vorgeschlagen, dass Großbritannien zum Euro-Rettungschirm für Griechenland hätte beitragen sollen. Mit einem anderen Vertreter musste ich unseren Punkt vorstellen, das Gegenargument hören, und endlich musste unser Publikum dafür oder dagegen wählen. Da fast die Hälfte des Publikums aus Deutschland kam, gewannen wir mühelos.
Endlich kam die sehnlich erwartete Freizeit . Mona, Julia, Clarissa und ich schlugen Bedenken in den Wind und fuhren mit der U-Bahn nach Picadilly Circus, wo wir das wahnsinnige Tourist-Geschäft „Cool Britannia“ fanden. Ich kaufte nur eine ganz kleine Plakette mit dem „London Underground“ Logo, ein winziges Andenken. Mona und ich fuhren dann weiter zum Westfields Einkaufszentrum in Shepherds Bush, dann fiel uns auf, wie wenig Zeit wir hatten, also mussten wir sehr schnell wieder nach Ealing Broadway fahren. Einige Gruppen von uns trafen sich im Park und saßen zusammen in der Sonne: wir aßen und lachten und redeten über alles mögliche. Um 20 Uhr mussten wir zusammen in eine Kirche gehen, um den offiziellen Abschiedsabend zu machen. Selbstverständlich quatschten wir viel mehr, aber diesmal saß ich zwischen zwei sehr intelligenten Deutschen also konnte ich einfach nicht zu Wort kommen! Wir gaben uns unsere Kontaktinformationen, umarmten uns zum letzten Mal, dann nahm ich Abschied und fuhr ab.
Diese Gelegenheit würde ich jedem empfehlen. Ich muss es nicht sagen, dass ich am Anfang sehr ängstlich war, in einer Gruppe ausländischer Jugendlicher, die ich nicht kannte, für eine Woche zu arbeiten. Nach der Woche, auf der anderen Seite, kann ich wohl sagen, dass meine Angst komplett grundlos war: von diesem wunderbaren Erlebnis habe ich viele tolle Menschen kennengelernt und mit mehreren bin ich noch regelmäßig im Kontakt. Außerdem habe ich viel mehr über meine Rolle als Bürgerin Europas gelernt: in Großbritannien insbesondere bilden wir uns ein, dass wir keine große Verantwortung in der EU tragen, aber dank dieser Woche habe ich herausgefunden, dass das überhaupt nicht stimmt. Die Europäische Union verstärkt die Welt in allen Teilen des Lebens und jeder muss dabei helfen, ob es durch Fremdsprachenlernen oder durch ein Wirtschaftswissenschaftstudium sein mag. Jeder europäische Bürger hat etwas, welches er beitragen kann, um diesen Verein zu verbessern. Wegen kleiner Projekte, wie der Multinationale Jugendaustausch, werden immer mehr Jugendliche über die Wichtigkeit der EU lernen, worüber wir alle wissen sollten. Am wichtigsten war es aber, die Möglichkeit zu haben, intelligente, hochmotivierte und interessante Menschen aus allen Teilen Europas kennenzulernen, und uns wieder zu erinnern, dass obwohl sie aus anderen Ländern sind, unterscheiden sie sich nicht so sehr von uns.