Der Soldat
Berlin, 31. Oktober 1950
Liebe Constanze;
erinnerst du dich an mich? Die Tage, die wir zusammen erlebten. Die Jahren, die wir zusammen froh und ruhig genieβen konnten. Die Familie, die wir haben wollten. Das war ein gutes Leben... Jetzt ist es anders. Es gibt nichts mehr für mich... Warum schreibe ich dir? Fragst du dich vielleicht. Ich habe nur zwei Absichten. Mich zu entschuldigen und zu verabschieden...
Ich vermisse dich. Es gibt in meinem Kopf nur verschwommene Erinnerungen. Ich vermisse alles, was vor dem Krieg mein Alltag war. Vielleicht ist das nur Geschichte für dich, aber nicht für mich. Jeden Tag, jeden Abend kommen diese Erinnerungen zu mir, wie hübsche Schmetterlinge treten in Scharen auf und wickeln mich in einem Wirbel von Farben und Gefühle um. Schön, verblüffend, aber nostalgisch...
Ich habe einen Fehler gemacht. Es gibt keine Begründung für das, was ich gemacht habe. Aber es war schlimmer für mich zu wissen, dass du keine Kenntnis hattest, warum ich ins Gefängnis gegangen bin. Ich wollte dir nichts erzählen. Es ist eine Scham für mich. Aber es ist richtig, dass du es weiβt. Auβerdem ist jetzt alles egal für mich... Morgen ist das Ende meines Lebens. Also, als ich nach dem Krieg nach Hause kam, gab es kein Brot. Dann sah ich jemanden, der ein bisschen hatte. Du warst nicht da. So habe ich ihm getötet... Vielleicht, wenn ich den Schuld übernommen hätte , würde ich... Nein, schuldig wurde ich schon. Aber, vielleicht hätte ich nicht diese Strafe bekommen sollen. Ich erinnere mich immer noch an diesen Moment vor dem Richter. Er sagte mir, dass ich keinen ermorden dürfte. Aber dann fragte ich, warum nicht?
Ich verstehe, wenn du dich fragst, wieso ich keine Gefühle habe, keine Ethik... Ich war anders. Du weiβt es. Wo ist der Mann, den du kennen gelernt hattest? Der, der alle Probleme ohne Gewalt lösen konnte. Aber es gibt ein Vorher und ein Nachher für diesen alten Mann. Der Wendepunkt meines Lebens heiβt Krieg. Ich will nicht mein Vorgehen begründen. Ich will dir nur erzählen, wie scheuβlich und furchtbar der Krieg war.
Ich hatte den Krieg in seiner schlimmst möglichen Form erlebt. Der Kommandeur hatte eine groβe Gruppe von Soldaten, in die ich eingemischt war, an die Ostfront geschickt. Wir konnten nicht beklagen. Dafür sind Soldaten da, um zu kämpfen, um zu leiden. Vielleicht denkst du, dass ich dir so ein schreckliches Bild vom Krieg ausmale, wegen Wunden, Waffen und so weiter. Aber es ist nicht so. Was ich dir erzählen will, betrachtet am meisten die Situation, die wir jeden Tag erleben müssten. Wie wir die Bomben hörten, die Schüsse der Heckenschützen... Ich sah, wie Männer, die vieles erlebt hatten, die eine ganze Familie und Freunde hatten, in weniger als einer Sekunde gestorben sind. Am Anfang hat alles „ruhig“ begonnen. Es gab sogar keinen Widerstand bei den Russen. Vielleicht, weil sie dachten, dass Hitler den Pakt respektieren würde. Aber Hitler war für mich nur einen verrückten Mörder. Da glaubte ich, dass Deutschland eine groβe Chance hätte, die Russen zu besiegen und Krieg zu gewinnen. Aber ich verstehe nichts von Gewalt, Strategie und Krieg. Alles war neu für mich und ich war nicht der einzige. Ich habe ein Freund getroffen, aber ich habe ihn auch verloren. Er war auch neu. Ein paar Monaten verbrachten wir zusammen. Dann kamen diese blöden Tagen in Stalingrad... Er hat nur einen Teil seines Kopfes gezeigt und er wurde erschossen. Die russischen Heckenschützen haben sogar keine Möglichkeit vertan, um Deutsche zu töten. Man wusste nicht, wenn man in ihrem Visier war. Auch der Druck, unter dem wir uns verstecken mussten. Ein Kopf, ein Fuβ oder eine Hand falsch zu bewegen, bedeutete einen Schuss. Dann hörte man die Schreien von jemanden der den Schuss bekommen hatte...
Essen hatten wir auch nicht. Es gab Tagen, in denen wir nur ein paar Brötchen gegessen haben. Ich kann sagen, dass es die reinste Hölle war.
Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich fühle jetzt die Folgen des Krieges. Was er mit mir gemacht hat... Als ich den Mann getötet habe, fühlte ich sogar keine Angst, keine Schuld... Im Gegenteil ich fühlte Genuss, wie man Genuss fühlt, wenn ein Feind stirbt. Ich bin verrückt...
Ich will dir keine Sorgen machen. Wenn du den Brief bekommst, werde ich schon seit lange nicht mehr existieren. Ich verabschiede mich. Ich danke dir für all die Freude, die du mir gegeben hast. Ich war glücklich, wie viele anderen... Vor dem Krieg... Du warst alles für mich. Jetzt bedeute ich nichts für dich. Jetzt bedeute ich nichts für irgendwen, nicht mal für mich...
Deiner...Jemand