Aber zuerst eine kurze Zusammenfassung von einer von Ovids Metamorphosen : Pyramus und Thisbe sind ein in Babylon wohnendes Liebespaar, deren Häuser so dicht nebeneinander stehen, dass sie eine gemeinsame Wand haben. Die Väter der sich Liebenden verbieten eine Heirat. Deshalb kommunizieren Pyramus und Thisbe durch die gespaltene Hauswand, die beide Häuser verbindet, und beschließen, sich nachts heimlich außerhalb der Stadt unter einem Maulbeerbaum zu treffen.
Dort erscheint Thisbe eher als Pyramus und wird von einer Löwin verjagt, wobei sie ihren Mantel verliert. Diesen Mantel befleckt die von einer Jagd zurückkehrende Löwin mit Blut, und so wird er von Pyramus gefunden, der zu dem Glauben kommt, Thisbe sei getötet worden. Er begeht Selbstmord. Thisbe findet seinen Leichnam und bringt sich ebenfalls um, als sie den Grund erkannt hat.
Vorher bittet sie ihre Eltern und den als Treffpunkt erwählten Maulbeer um Gedenken an ihre durch unglückliche Liebe begangenen Selbstmorde, worauf der Maulbeerbaum die dunkelrote Farbe seiner von Pyramus` Blut befleckten Früchte behält.
Shakespeares Werk, die Tragödie „Romeo und Julia", enthält eine Szene (2. Aufzug, 2. Szene), die vergleichbar ist mit dem Gespräch Pyramus` und Thisbes durch den Riss in der Hauswand. Es handelt sich um einen Dialog zwischen den Verliebten Romeo und Julia. Shakespeare hat einige Aspekte der Metamorphose aufgegriffen, aber auch einiges umgeändert. Die Situation des Liebespaares bei Shakespeare ist eine ähnliche: Sie lieben sich, werden aber durch ihre Familien gehindert, zusammenzukommen. Trotzdem bleiben sie in Kontakt miteinander. Ihr Gespräch in dieser Szene findet nachts im Garten der Familie Capulet (Julias Familie) statt, bei welchem Julia auf ihrem Balkon steht und Romeo darunter, nachdem er sich auf das für ihn verbotene Grundstück geschlichen hat.
Die Andersartigkeit dieses Schauplatzes trägt zur Wirkung des Stückes bei: Romeo befindet sich auf dem Grundstück der Capulets, obwohl es für ihn lebensgefährlich ist, weil beide Familien regelrecht verfeindet sind. Dieser Umstand erhöht die Spannung ebenso wie die Tatsache, dass es Nacht ist.
Es mag auch etwas Romantischeres an sich haben, dass das Gespräch nicht bei Tageslicht stattfindet. Julia steht auf dem Balkon, was ihr etwas Würdevolles verleiht und auch Romeos Einstellung zu ihr widerspiegelt, der Julia wie eine Göttin verehrt.
Shakespeares Rüpelszene ist demnach eine Art Karikatur der Metamorphose Ovids. Er nimmt der Metamorphose ihren traurigen Ernst und gestaltet sie zu einem leichter verdaulichen, aber auch teilweise lächerlichen Theaterstück um.
Das Motiv dieser Geschichte ist die starke Liebe zwischen den zwei jungen Menschen Pyramus und Thisbe, die aber von Anfang an nicht die Chance bekommt, sich frei zu entfalten. Die ganze Zeit über gelingt es Pyramus und Thisbe nicht zusammenzukommen und eine ‚normale‘, zufriedenstellende Freundschaft zu haben.
Ovid macht es dem Leser zum ersten Mal durch die Schilderung des Gesprächs deutlich, das das Paar durch den Spalt in der Hauswand führt. Pyramus und Thisbe sind räumlich voneinander nur durch eine Wand getrennt, was im Text durch einen Chiasmus anschaulich dargestellt ist. Diese Textstelle weist eine gewisse Symmetrie auf, so, wie das mögliche Bild von der Szene im Kopf des Lesers.
Die Trennung der beiden ist zwar nicht vollkommen, aber dennoch schwer überbrückbar, was durch die allabendliche Kusszeremonie deutlich wird; beide geben ihrem Teil der Wand Küsse, die nicht auf die andere Seite gelangen. Trotzdem tun sie es.
Die Wand als trennendes Element wird von Ovid personifiziert, Pyramus und Thisbe reden sie an .Die Trennung wird für den Leser noch greifbarer,betont, weil es sowohl am Satz – und Versanfang steht, als auch vom noch folgenden getrennt ist, charakterisiert die Wand als neidisch.
Das Paar verurteilt die Wand, die den „amantibus" im Wege steht. Ovid benutzt die Worte ‚amor‘ und ‚amantes‘ sehr häufig, insgesamt tauchen sie elf Mal auf und rufen das Hauptthema der Geschichte ins Gedächtnis.
Pyramus und Thisbe scheinen sich allerdings halbwegs mit der Wand abgefunden zu haben, da sie einräumen es der Ritze in der Wand und damit der Wand selbst zu verdanken, sich wenigstens verbal austauschen zu können. Jedenfalls ist die Liebesbeziehung des Paares momentan nicht ohne die Wand zu denken, was auch die Wortstellung in V.76 vermuten lässt.
Diese Umstände wecken die Sehnsucht des einen nach dem anderen. Das kommt schon allein dadurch zum Ausdruck, dass die Wandgespräche regelmäßig stattzufinden scheinen (V.71); „saepe" zeigt die Häufigkeit. Der Ablauf des Gesprächs, von Ovid wie ein täglicher geschildert.
Die Liebenden entwickeln eine gewisse Ausdauer, angetrieben wohl auch von ihrer Sehnsucht nach körperlicher Nähe. Die Worte „toto nos corpore" enthalten zudem Lautmalerei.
Das immer wiederkehrende ‚o‘ erinnert an Seufzen oder Jammern, die Vokalfarbe ist ziemlich dunkel und impliziert Niedergeschlagenheit. Die Vokalfarbe ist hier noch dunkler und beschreibt eine sehnsuchts – und geheimnisvolle Atmosphäre.
Der Textausschnitt enthält also primär eine sehnsuchtsvolle Stimmung. Dem Leser soll aufgehen, welch ein intensives Gefühl mit dieser Liebe hier unterdrückt wird. Die Trennung von Thisbe und Pyramus macht aus ihr eine „unglückliche" Liebe.
Bibliographie
Ovids Pyramus und Thisbe in Klassische Sagen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1997
Ovidiu: Metamorfoze, Editura Academiei RPR, Bucuresti, 1959
von Wilpert, Gero:Sachwörterbuch der Literatur, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2001.