Marie hat jedoch nach ihrem letzten Besuch im Gefängnis gar keinen Platz mehr in Meursaults Bewusstsein. Dies liegt daran, dass Meursault sich „der Absurdität des Daseins“ bewusst wird und nur dies ihn beschäftigt.
„Ich habe gesagt, ich hätte diese Mauern seit Monaten angesehen. Es gäbe niemanden und nichts auf der Welt, das ich besser kennen würde. Vielleicht hätte ich vor langer Zeit einmal ein Gesicht darin gesucht. Aber dieses Gesicht hätte die Farbe der Sonne und die Glut des Begehrens gehabt: es wäre das von Marie. Ich hatte es vergebens gesucht. Jetzt wäre es vorbei.“
Meursault erzählt dies dem Priester im Gefängnis, nachdem der Priester Meursault fragt, ob er Gott in den Mauern sieht. Da für Meursault Religion jedoch keine Rolle spielt, sah er in den Mauern lediglich Maries Gesicht.
Der Leser wird zügig mit den verschiedenen Geschehnissen und Personen bekannt gemacht. Alles erscheint wie Momentaufnahmen, da dies stets auf einer oberflächlichen Ebene geschieht. Der Leser sieht und hört lediglich das, was Meursault sieht und hört. Es werden keine Gefühle geäußert und stets eine gewisse Distanz gehalten.
Ereignisse werden sehr sachlich nacherzählt, wodurch das Gefühl von Gleichförmigkeit und des völligen Unbeteiligtseins des Erzählers entsteht. Meursault entzieht sich den Zwängen der Gesellschaft und stellt sich selbst keine moralischen Fragen. Er greift nicht ein, als sein Nachbar Salamano dessen Hund misshandelt. Er raucht bei der Totenwache seiner Mutter und trinkt Milchkaffee, was kühl und teilnahmslos wirkt.
Auch nach dem Tod seiner Mutter empfindet Meursault scheinbar keine Traurigkeit. Der Roman fängt an mit „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.“ Er zeigt keine emotionale Reaktion gegenüber dem Tod seiner Mutter. Der Leser kann keinerlei Emotionen in den zwei ersten Sätzen erkennen. Sie sind parataktisch, was bedeutet, dass Meursault den Tod seiner Mutter nicht hinterfragt, was für den Leser jedoch als Gleichgültigkeit erscheint. Jedoch hebt das Wort „Mama“ das kindliche Verhältnis zu seiner Mutter hervor.
Im Roman wird auf die direkte Gesellschaftskritik verzichtet. Diese geschieht indirekt durch die Gleichgültigkeit von Meursault, da diese die Ordnung in Frage stellt.
Seine Charakterveränderung im zweiten Teil wird von drei Aspekten bestimmt: der Hoffnung, dem Aufbegehren und von der Liebe zum Leben. Er denkt nach dem Urteil an Flucht „Ich weiß nicht, wie oft ich mich gefragt habe, ob es Beispiele für zum Tode Verurteilte gab, die dem unerbittlichen Mechanismus entronnen sind, vor der Hinrichtung verschwunden sind, die Polizeiketten durchbrochen haben.“, da er immer noch die Hoffnung besitzt, dass seinem Gnadengesuch stattgegeben wird. Er gibt zu, dass er sich die Frage nach der Flucht „oft“ gestellt hat. Er macht sich Gedanken darüber, was an der langen Satzkonstellation zu erkennen ist. Meursault fängt an, über vergangene Ereignisse zu reflektieren. Er macht sich also Gedanken über die Vergangenheit. Außerdem beginnt er Empathie zu empfinden. In der Erkenntnis, dass das Leben für ihn vorbei ist, empfindet Meursault Liebe für alltägliche Dinge „Doch zu Beginn meiner Haft war das härteste, daß ich Gedanken eines freien Mannes hatte.“. Mit einem „freien Mann“ assoziiert man jemanden, der sein Leben bis zum Zeitpunkt seines Todes gelebt hat. Jemand, der tun und lassen kann, was er will und der Emotionen und Leidenschaft erfahren hat. Er denkt daran, wie es ist am Meer zu sein und in das Wasser einzutauchen. Er fühlt sich eingesperrt im Gefängnis, wenn er daran denkt, was für eine Befreiung es für ihn ist, ins Meer einzutauchen. Das Meer steht dabei als Symbol für seine Freiheit.
Seine Sprache wird argumentativ und der Satzbau komplexer. Seine Sätze sind häufiger hypotaktisch aufgebaut und er benutzt Konjunktionen wie „trotz“ oder „denn“. Diese Gedankenbewegung von Meursault kann als „Retroperspektive“ (Vergangenheitsbewältigung) beschrieben werden. Eine weitere Charakterveränderung Meursaults ist, dass er beginnt Sachen abzuwägen. Er benutzt immer öfter antithetische Partikel, wie „einerseits...andererseits“ oder „abgesehen von...“, was bedeutet, dass er anfängt zwischen schlecht und gut zu unterscheiden. Er gibt zu, dass er „...abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten...“ nicht besonders unglücklich war. Er sieht also sowohl das Negative, als auch das Positive in seiner Situation. Dieses Abwägen verdeutlicht wiederum, dass er sich immer mehr Gedanken über sein Handeln macht. Mit der Litotes „...nicht besonders unglücklich...“ hebt er hervor, dass er sich durchaus mit der Situation zurecht gefunden hat.
Auch als er seinem Anwalt gegenüber sitzt, denkt er anfangs schlecht über ihn, auf Grund der Situation im Büro, die den Leser an einen Krimi erinnert. Nach ihrem Gespräch dagegen fängt er an, seinen Anwalt genauer zu betrachten und stellt fest, dass er ihm letztendlich „...sehr vernünftig (erschien)...“.
Außerdem fängt er an, sein Leben wertzuschätzen. Meursault stellt fest, „...daß ein Mensch, der nur einen einzigen Tag gelebt hat, mühelos hundert Jahre in einem Gefängnis leben könnte. Er hätte genug Erinnerungen, um sich nicht zu langweilen.“
Kurz vor Meursaults Todesstrafe, erschließt sich ihm sein Leben. Der Kreis aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft schließt sich für ihn und er findet Erlösung, was bedeutet, dass er realisiert, dass sein Leben nicht umsonst war. Auf der letzten Seite des Romans sagt er, dass er versteht, weshalb sich seine Mutter kurz vor Ende ihres Lebens „...einen Bräutigam zugelegt hatte...“. Ein Bräutigam ist Teil einer Hochzeit und eine Hochzeit steht in diesem Falle für einen Neubeginn. Meursaults Mutter hat also gespielt, dass sie „...neu anfinge...“.
Er versteht plötzlich den Sinn des Lebens und fängt an, sein Leben wertzuschätzen, kurz vor seiner Todesstrafe:
„Dem Tod so nahe, hatte Mama sich dort befreit gefühlt und bereit, alles noch einmal zu leben. Niemand, niemand hatte das Recht, sie zu beweinen. Und auch ich fühlte mich bereit, alles noch einmal zu leben“.
Die Inversion „Dem Tod so nahe...“ hebt also hervor, dass seine Mutter dies erst kurz vor ihrem Tod gefühlt hat. Mit der Wiederholung „Niemand, niemand...“ drückt Meursault aus, dass es richtig von ihm war, seine Mutter nicht zu beweinen, auch wenn dies gleichgültig erscheinen mag. Meursault fängt an, seine Mutter zu verstehen, da „auch“ er bereit ist, sein Leben nochmal zu leben.
Für seine Mitmenschen scheint Meursault der Fremde in ihrer Welt zu sein. Auch dem Richter, seinem Anwalt und den Geschworenen erscheint er als der Fremde, wodurch er letztendlich auf Grund seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod seiner Mutter angeklagt wird, und nicht wegen des Totschlages. Für die Menschen um ihn herum ist Meursault ein Mensch ohne Seele, Gedanken und Moral. Meursault wird am Ende bewusst, dass sein Leben nicht umsonst war. Er realisiert, dass die Klarheit über die eigene Existenz die einzig richtige Erkenntnis ist. Meursault ist sich dem Absurden bewusst, was für ihn bedeutet, dass er seine Freiheit entdecken und das Leben fühlen kann.
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Bibliographie:
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58. Auflage, März 2006. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Poppe, Reiner. (1982) Königserläuterungen, Der Fremde.
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